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Kriminalisierte Obdachlosigkeit

Seit dem 1. Dezember 2011 ist in Ungarn ein Gesetz in Kraft, durch welches Obdachlosigkeit zum kriminellen Tatbestand wird. »Beten & Zwangsarbeit« oder Gefängnis, dazwischen Hare Hare Krishna, und das Risiko, auf offener Straße zu erfrieren. Eine Demokratie in Europa im Jahr 2012.

Im Winter 2010, begann Budapests neuer Oberbürgermeister István Tarlós, neue Maßnahmen zur »Integration der aus dem sozialen Netz Gefallenen« durchzusetzen [Quelle]. Dies bedeutete die Vertreibung der Obdachlosen von den Straßen, und vor allem aus den Fußgänger­passagen, in welchen diese übernachteten. Es ging auf Weihnachten zu, man wollte diese »Bereiche säubern […], um die Sicherheit zu erhöhen« [Quelle].

Tatsache ist, dass auch in Ungarn jeden Winter viele Obdachlose beim Übernachten auf der Straße den Kältetod sterben. Im Winter 2010 ⁄ 2011 sollen allein in Budapest 84 Menschen auf der Straße erfroren sein [Quelle]. Die Betreuung Obdachloser wird durch die Kirche und private Organisationen übernommen.

Mitglieder der Hare-Krishna-Bewegung bei der kostenfreien Essensausgabe in Budapest [Bildquelle]

Dass die Selbstermächtigung bei der Hilfe dort, wo die Stadtregierung sie nicht bietet, von deren Seite auf wenig Gegenliebe stößt, beschreibt dieser Artikel aus dem Sommer 2011. Nach Jahren der unentgeltlichen Essensausgabe durch die Mitglieder der Hare-Krishna-Bewegung mussten diese den Ausgabeort wechseln. Die zuvor genutzte Fläche in einen Park umgewidmet wird.

Direkte Demokratie zur Kriminalisierung der Obdachlosigkeit


Dr. Kocsis Máté
Bezirksbürgermeister
Ende September 2011 rief Ungarns Regierungspartei Fidesz-MPSZ [Wikipedia] über deren Bezirksbürgermeister für Budapests VIII. Bezirk, Dr. Kocsis Máté zu einem Volksbefragung zur Kriminalisierung Obdachloser auf. Und scheiterte an einer Wahlbeteiligung von 16%. »Wühlen in Mülltonnen« und »Wohnen auf öffentlichem Gelände« sollte unter deftige Geldstrafe gestellt werden [Text des Volksbegehrens]. Die Abstimmung und deren Durchsetzung hätte sich [zunächst nur] auf Budapests VIII. Bezirk beschränkt; eine Beispielwirkung auf andere Bezirke wäre wohl nicht unwahrscheinlich gewesen. Aufrufe an die Bevölkerung, für die Durchsetzung zu stimmen, wurden wie hier formuliert:

Die Josefstadt gehört den Josefstädtern. Uns allen, die wir täglich etwas für den Bezirk tun, und die wir täglich aufs Neue feststellen müssen, dass das, was wir bis zum Abend aufbauen, bis zum Morgen wieder von ihnen zerstört wird. […] Unterstützen Sie uns dabei, die unsäglichen Zustände zu beenden, unseren öffentlichen Raum zu bewahren und den Josefstädtern zurückzugeben!

… dass wir Ordnungsbeamte, Bezirkswächter, Polizisten und Reinigungspersonal nicht in ausreichender Anzahl abbestellen können, um die in den Bezirk strömende Obdachlosengesellschaft in Schach zu halten. Es kann nicht erwartet werden, dass das Obdachlosenproblem des Landes zum Großteil von der Josefstadt gelöst wird.

[Quelle obiger Zitate]

Wenn nacktes Überleben strafbar wird, ist der Weg ins Gefängnis ein kurzer. Die Abstimmung und deren Auswirkungen hätten sich zunächst nur auf Budapests VIII. Bezirk beschränkt, eine Beispielwirkung wäre jedoch bei »erfolgreicher« Exekutierung wohl zu erwarten gewesen.

Als Trostpreis für die misslungene Volksbefragung wurde Kocsis parteiintern zum »Parteikommissar für Obdachlosenfragen« befördert. Was bei der die Mehrheit im Parlament stellenden Partei kein kleiner Posten sein dürfte [Artikel].

Zwangsbeglückung oder Kältetod

Am 1. Dezember 2011 trat ein neues Gesetz in Kraft, durch welches den auf der Straße Lebenden beizukommen versucht wird: die Stadtregierung bietet den Obdachlosen Unterkünfte an. ABER: wer öffentliche Plätze »sachfremd nutzt«, riskiert Geldstrafen bis zu € 500 oder mehrere Tage Haft. Die Weigerung, die angebotene Unterkunft nicht in Anspruch zu nehmen, macht sich ebenfalls eben dieser Delikte strafbar. Obdachlosigkeit kann strafbar sein.

»Jeden Winter erfrieren immer wieder und immer mehr Wohnungslose in den Innenhöfen der Häuser oder auf Parkbänken. Und die Bürger haben Angst, mit ihren Kindern durch Budapests Straßen spazieren zu gehen. Das kann kein Zustand sein.«
Dr. Kocsis Máté, Parteikommissar für Obdachlosenfragen [Quelle].

Damit man etwa nicht in die Verlegenheit kommt, den Kindern erklären zu müssen, warum ein Toter neben dem Spielplatz liegt. Im Jahr 2011 ⁄ 12. In Europa. Wir sind echt ziemlich am Ende, Leute.

ora et labora – beten und arbeiten

Mit dem neuen Gesetz soll[te] für die Wohnungslosen Unterkünfte bereit gestellt werden, und im Dezember 2011 war es dann so weit: der neu gekürte »Parteikommissar für Obdachlosenfragen«, Dr. Kocsis, eröffnete das erste »Haus der Seele« eröffnet. Für »zunächst 14 Obdachlosen [sollte hier] redliche Arbeit und geistlicher Trost geboten [werden]«. In der Realität ist es ein von christlichen Hilfswerken betriebenes, polizeilich bewachtes Heim, in welchem auf Arbeits- und Gebetspflicht bestanden wird [Quelle].

Das Konzept »Beten und Arbeiten« ist nicht neu, wurden doch vor Jahrhunderten die Klöster so betrieben, um Land urbar zu machen; wobei nur die wenigsten Mönche freiwillig bei der Sache waren. Die Sache mit der Zwangsarbeit zur Arbeitsbeschaffung wurde unter den Nazis auch ganz erfolgreich durchgezogen. Und die Sache mit der Zwangsarbeit passt in ein Schema, welches die Regierung Orban, der auch der Parteikommissar für Obdachlosenfragen angehört, zielstrebig verfolgt: Artikel hierzu im Pusztaranger Blog, einer auf taz.de, einer auf Pester Lloyd, einer auf …

gefunden über:INSP – New Hungarian homeless law could mean the end for Flaszter